„Von dem Ziel, uns überflüssig zu machen, sind wir weit entfernt“
Gastbeitrag der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch von Alina Krobok:
Als Sea-Watch 2015 das erste Mal in See stach, um Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten, wollten wir nur eine Übergangslösung sein. Wir wollten nicht zusehen, wie Menschen sterben, weil staatliche Stellen ihrer Verantwortung nicht nachkommen und die Augen verschließen innerhalb der Festung Europa. Wir arbeiten uns nun seit drei Jahren an den Konsequenzen ihrer Politik ab, nämlich einer menschengemachten Situation, die Leben kostet.
2018 sind wir von unserem Ziel, uns selbst irgendwann überflüssig zu machen, weiter entfernt, als wir es je waren. Wir waren gestartet mit der kleinen Sea-Watch 1, mittlerweile sind wir bei der deutlich größeren Sea-Watch 3 angekommen und haben ein Aufklärungsflugzeug. 2016 gab es 13 zivile Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer und Mare Nostrum der EU, jetzt sind es vier zivile Schiffe und die EU ist praktisch nicht präsent. Statt eine eigene Mission für Seenotrettung ins Leben zu rufen, baut die Europäische Union nun die Aktivitäten mit der sogenannten Libyschen Küstenwache (LYCG) aus. Durch Ausstattung und Ausbildung finanziert die EU ihren südlichen Nachbarn mit Millionenbeträgen. Es ist tragisch, dass dieses Engagement bis heute nicht zu einer Professionalisierung der LYCG geführt hat.
Schon Anfang 2016 kam es zu den ersten Zwischenfällen durch das Eingreifen der LYCG. Über das Jahr eskalierte die Situation im Einsatzgebiet immer weiter bis es irgendwann tödlich wurde:
Im August beschossen sie dann das Schiff Bourbon Argos der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Später, im selben Monat, enterte die sogenannte libysche Küstenwache dann mit Waffengewalt das Schiff der spanischen Organisation “Proactiva Open Arms”. Glücklicherweise verließen sie das Boot nach zwei Stunden, ohne dass es Verletzte gab. Bereits im Oktober 2016 gingen mehrere Mitglieder der LYCG in Anwesenheit der Sea- Watch 2 auf ein Boot mit Geflüchteten und schlugen die Passagiere mit Stöcken, woraufhin viele Personen ins Wasser fielen oder sprangen und mehrere Personen starben. Als Reaktion hat Sea-Watch ein Verfahren gegen die Mitglieder der LYCG angestrebt. Dieses stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg im Februar 2017 ein. Die schwer fassbare Begründung: Die Identität der mutmaßlichen Täter könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Täter, die jedoch gut genug bekannt sind, um unter anderem durch deutsche Steuergelder finanziert zu werden.
Im November letzten Jahres schossen die sogenannten Libyschen Küstenwächter in Richtung einer Fregatte der deutschen Marine, wofür sie sich später entschuldigten. Im selben Monat ereignete sich jedoch erneut ein tödlicher Vorfall, als ein Schiff der sogenannten Libyschen Küstenwache in einen Rettungseinsatz hinein preschte. Die Soldaten schlugen und verletzten mehrere Menschen und sorgten für Chaos. Mindestens fünf Menschen kamen dabei ums Leben.
Spätestens seit Anfang des letzten Jahres häufen sich auch Berichte über die unmenschlichen Zustände in den libyschen Geflüchtetencamps und über die Zusammenarbeit der LYCG mit Schleppernetzwerken. Ein Bericht des Auswärtigen Amtes bezeichnet die Zustände gar als „KZ-artig“, UN-Berichte schildern die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe sowie Folter und sexualisierte Gewalt. Sie wissen auch um die Besetzung der sogenannten Libyschen Küstenwache mit denselben Personen, die die Schleppernetzwerke anführen und auf See durch ihr brutales und rücksichtsloses Verhalten Flüchtende und zivile Retter*innen gleichermaßen gefährden.
Trotz dieser Skandale hält die Europäische Union an der Zusammenarbeit fest. Menschenleben zu schützen scheint hier nicht Priorität zu sein. Niemand redet über den Einsatz der italienischen Marine vor Libyen, die libyschen Milizen dabei hilft, das Völkerrecht zu brechen, oder über Zahlungen an dubiose Milizen, die Flüchtende bereits an den Stränden stoppen und einsperren.
Zunächst war das Verhältnis der zivilen Retter*innen mit der italienischen Küstenwache sehr gut. Angehörige der Küstenwache brachten immer wieder ihre Dankbarkeit gegenüber den zivilen Kolleg*innen zum Ausdruck. Doch die Mitte-Links Regierung Italiens geriet innenpolitisch zunehmend unter Druck. Mit dem Schließen der innereuropäischen Grenzen kann sie den Druck auch nicht mehr nach Norden weitergeben. Während die NGOs weiter in enger Abstimmung mit der italienischen Rettungsleitstelle Leben retten, wandelt sich das politische Klima drastisch. Im Februar 2017 warf der Leiter der Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, den NGOs indirekt vor, mit Schleppern zusammenzuarbeiten.
Im August 2017 gipfelte die von Politik und Medien über Monate aufgebaute Verleumdungskampagne der humanitären Helfer*innen in der Beschlagnahmung der IUVENTA, des zivilen Rettungsschiffes der deutsche NGO Jugend Rettet– eine Verzweiflungstat der Italiener*innen, die von den anderen EU Staaten mit den Auswirkungen der selbst verursachten humanitären Krise im Stich gelassen werden. 2016 waren mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Dennoch sollen nun diese zivilen Helfer*innen mit ihrem 35 Meter langen alten Fischkutter dafür verantwortlich sein, dass Tausende in die seeuntauglichen Boote steigen. In der Öffentlichkeit wandelt sich auf Grund dieser mutwilligen Unterstellungen das Bild der Seenotrettungsorganisationen. Aus den „Held*innen im Kampf für die Menschenrechte“ sind Störenfriede geworden, die sich angeblich gar am Leid der anderen bereichern sollen.
Das Versagen der Europäischen Union, das Sterben an ihren tödlichen Außengrenzen zu beenden, ist zunehmend in den Hintergrund geraten. Darüber, dass die EU die Menschen erst in die Hände krimineller Schlepperbanden und auf unsichere Boote treibt, weil sie alle anderen Wege für Schutzsuchende verschließt und darüber, dass die zivilen Retter*innen nur aktiv sind, weil Europa seine Verantwortung nicht wahrnimmt, spricht kaum noch jemand. Die zivilen Rettungsschiffe durchkreuzen vielmehr das europäische Konzept des Sterbenlassens. Sie stören, deshalb wird ihnen jetzt der Prozess gemacht.
Nachdem sich zahlreiche Organisationen vor einem Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments rechtfertigen mussten und Italien ihnen einen Verhaltenskodex auferlegte, den der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in Teilen für völkerrechtswidrig erklärt hat, liegt das einstmalige Rettungsschiff IUVENTA nun seit bereits 9 Monaten an der italienischen Kette.
Auch Sea-Watch bekommt diesen Wandel direkt zu spüren: Anfeindungen nehmen zu, Debatten werden hitziger und unsere Arbeit gefährlicher – auf dem Meer gefährdet die nach wie vor unberechenbar agierende LYCG unsere Arbeit, an Land werden Solidarität und humanitäre Hilfe kriminalisiert.
Die Inszenierung ist also gelungen. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Plan aufgeht und der Vorhang für die zivile Seenotrettung zeitnah fällt. Das Sterben wird dann weitergehen und die wahren Verantwortlichen bleiben unbehelligt.
Während sich Europa immer mehr abschottet, problematische Staaten finanziert und mit der Abwehr von Geflüchteten betreut, hat die Europäische Union aktuell kein eigenes Programm zur Seenotrettung. Die EUNAVFOR MED Mission Operation SOPHIA soll vorrangig Schlepperei bekämpfen. Seenotrettung passiert bestenfalls nebenbei, weil das Seerecht jeden Kapitän eines Schiffes zur Seenotrettung verpflichtet. Im Mandat der verlängerten Operation Sophia kommt das Wort „Search“ und damit der Auftrag zur aktiven Rettung in Not geratener Personen nicht einmal mehr vor. Eine Verbesserung der Situation ist also nicht in Sicht, im Gegenteil: Weniger Boote bedeuten mehr Tote.
Bis aber die Europäische Union echte und humane Lösungen für diese humanitäre Krise findet, bleibt zivile Seenotrettung unerlässlich. Auch im vergangenen Jahr entfielen etwa 43% der Rettungen auf die zivilen Organisationen – deren Schiffe auf Grund der Kriminalisierungskampagnen und der Bedrohung der EU-Partner der sogenannten Libyschen Küstenwache sich mittlerweile zum größten Teil aus dem Einsatz zurückziehen mussten. Doch allein Sea-Watch war seit 2015 an der Rettung von über 35.000 Menschen beteiligt.
Gerade, weil der Gegenwind zunimmt, ist die Unterstützung vom Land unersetzlich. Vor allem Spenden – Schiffe und Luftaufklärung sind teuer -, aber auch durch Engagement in den öffentlichen Debatten.
Der Einfluss rechtspopulistischer Parteien macht es nahezu unmöglich, über eine Safe Passage, also sichere und legale Fluchtwege für Flüchtende, zu reden. Doch selbst wenn unser eigentliches Ziel, uns selbst überflüssig zu machen, in noch weitere Ferne gerückt ist: Sea-Watch bleibt auf dem Mittelmeer aktiv, denn wir können Menschen dort nicht ertrinken lassen. Damit sich die Bedingungen unserer Arbeit nicht verschlechtern, ist es unabdingbar, dass im politischen Diskurs die Perspektive der Menschenrechte in den Mittelpunkt rückt und verteidigt wird.
Spendenkonto:
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Durch eine Fördermitgliedschaft bei Sea-Watch e.V. finanziert man die Seenotrettung auf dem Mittelmeer mit Schiffen und der wichtigen Flugüberwachung mit. Nähere Infos dazu findet ihr auf sea-watch.org/spenden/foerdermitgliedschaft